Was treibt einen eigentlich Anfang Dezember nach Stettin? Zumindest in hiesigen Gefilden ist die Stadt ja nicht gerade für eine besondere Adventstradition bekannt.
Nun, in erster Linie war es die Einladung unserer polnischen Kommilitonen zur 9. Wissenschaftlichen Konferenz, die vom studentischen Verbindungskreis KN? an der Fakultät für Management und Dienstleistungswirtschaft an der Universität Stettin ausgerichtet wurde und am 7. und 8. Dezember 2005 stattfand. Nachdem Tom Keltsch bereits im April 2005 an der vorherigen Konferenz teilgenommen und nur Angenehmes zu berichten hatte sowie die Stettiner im September hier in Dresden an einem Fachtreffen teilgenommen und sich als äußerst umgängliche und spaßerprobte, aber auch zu ernsthaftem Arbeiten fähige Zeitgenossen präsentiert hatten, wäre es einfach unhöflich gewesen, die Einladung zu eben dieser von ihnen veranstalteten Konferenz auszuschlagen. Thema der Konferenz waren „Gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme der Grenzgebiete mit besonderer Berücksichtigung der Euroregion Pomerania“.
Dazu kam dann – zumindest in meinem Fall – aber auch noch die Neugier: die Neugier auf eine Stadt, von der ich zum ersten Mal in Verbindung mit irgendwelchen Solidarno??-Streiks in der Werft gehört hatte und deren polnische Schreibweise schon so oft zum Zungebrechen verleiten wollte, die Neugier auf eine Stadt, von deren wechselvoller Geschichte ich dann in den letzten Jahren doch das eine oder andere gehört hatte und nicht zuletzt die Neugier auf das Land Polen und seine Menschen. Bisher kannte ich Polen immer nur vom sogenannten „Polenmarkt“ kurz hinter der Grenze und aus rein touristischer Sicht durch einen Kurzbesuch vor einigen Jahren in Krakau. Aber habe ich dort das „richtige“ Polen erlebt?
Da wir die Zusage aus Stettin hatten, dass es für uns um 9 Uhr ein schönes Frühstück gäbe, bevor dann um 10 Uhr die Konferenz offiziell begann, brachen wir in aller Herrgottsfrühe mit dem Auto hier in Dresden auf. Aus dem Programm wussten wir, dass der Abend wohl lang werden würde, im Schloss zu Maciejewo sollte ja der Abendball zur Konferenz stattfinden. Aus diesen und jenen Gründen hatten wir uns dennoch für den langen Tag und die zeitige Abfahrt entschieden. Was wir nicht bedacht hatten – aber hätten ahnen können – war der Umstand, dass auch die vorherige Nacht ziemlich kurz würde. Die üblichen Dinge halt, man hat so Termine, beginnt nicht rechtzeitig mit Packen und muss darüber hinaus natürlich der vorbereiteten Präsentation auch noch den letzten Schliff geben …
Wenigstens hatten wir unterwegs immer das Gefühl, gut voranzukommen. Bei Berlin tauchten dann die ersten Wegweiser nach Stettin auf und die dorthin angezeigten Kilometerzahlen wurden ziemlich schnell ziemlich klein. Irgendwann waren die Wegweiser auch nicht mehr blau, sondern grün – und kurz danach waren wir auch schon da. Rechtzeitig zum Frühstück, alles prima. Vor die Wahl gestellt, ob wir Kaffee aus der Kaffeemaschine oder Instant-Kaffee zum Frühstück wünschten, verlangten wir – mit Blick auf die Kaffeemaschine – kurzerhand „richtigen Kaffee“. Daraus ergab sich dann gleich die erste Lektion kultureller Unterschiede. Wir bekamen türkischen Kaffee … Mit Blick auf den langen Tag aber auch nicht verkehrt.
Zur gelungenen Konferenz selbst will ich mich hier nicht weiter auslassen, die Bilder in beiden Galerien sprechen für deren gute Qualität. Am späten Nachmittag durfte ich dann schließlich auch unseren Dresdner Vortrag zum Thema „Grenzüberschreitender Nahverkehr in der Euroregion Elbe-Labe“ halten. Es wurde auch Zeit, ich war zugegebenermaßen ganz schön aufgeregt. Ausgehend von Gegebenheiten der Euroregion „Elbe-Labe“ haben wir mit unserem Vortrag versucht, Erfahrungen aus dem Verkehrswesen für andere Bereiche der Zusammenarbeit und für andere Euroregionen abzuleiten. Eines der schönsten Erlebnisse des gesamten Stettin-Aufenthaltes war übrigens die Begeisterung unserer Gastgeber über zwei polnische Sätze, die ich (mehr oder weniger) auswendig gelernt hatte und mit denen ich den Vortrag eingeleitet hatte.
Anschließend ging es für die Konferenzteilnehmer mit zwei Bussen nach Maciejewo, ein kleines Dorf mit einem noblen Schloss im Wald ca. 50 km östlich von Stettin. Dort gab es nicht nur edle Hotelzimmer und ein schönes Schwimmbad im Keller, sondern auch ein äußerst nobles Abendbankett, zumindest gemessen an unseren studentischen Ansprüchen. Freibier und die eine oder andere Runde bekannter hochprozentiger Getränke inklusive. Auch zu dieser Abendveranstaltung und zum Schloss selbst mögen die Bilder sprechen. Es hält sich übrigens hartnäckig das Gerücht, dass die letzten erst dann die Tanzfläche verlassen haben als die Hotelbelegschaft endlich fürs Frühstück eindecken wollte … Polnische Kultur live.
Nach ausgiebigem Frühstück habe ich die Chance genutzt und mich bis zum Konferenzbeginn kurz abgesetzt. Ich wollte noch das „richtige“ Maciejewo sehen. Damit wurde dann der Kontrast zwischen dem Schloss und seiner Umgebung so richtig deutlich: Kleine, flache Häuser, frischer Stallgeruch, bucklige, gepflasterte Straßen, Geflügel allerorten, irgendwo ein klitzekleiner Dorfkonsum, ein fast zugewachsener Friedhof, eine Bushaltestelle … Ein Dorf wie im Bilderbuch! Zurück im Schloss dann die Fortsetzung der Wissenschaftlichen Konferenz, anschließend Mittagessen, Gruppenfoto und Rückfahrt in die Großstadt Stettin.
Tom ist wegen anderer Verpflichtungen anschließend wieder nach Dresden gefahren, ich selbst bin noch zwei Tage geblieben. Unsere Gastgeber vom Verbindungskreis KN? hatten für alle auswärtigen Gäste noch ein kleines Rahmenprogramm organisiert. Zu diesen zählten neben uns Dresdnern noch drei polnische Delegationen aus verschiedenen Landesteilen sowie zwei Kommilitonen aus der weißrussischen Hauptstadt Minsk.
Zu besagtem weiteren Programm gehörten nicht nur verschiedene Stadtrundgänge abends und tagsüber, sondern auch zwei Besuche in Tanzbars, ein Umtrunk im Studentenwohnheim einschließlich einem erstem Bildervortrag zur eben abgelaufenen Konferenz – sowie nachts um halb drei eine individuelle Stadtrundfahrt von fast 60 Minuten. Eigentlich wollte mich Gregorz nur ins Wohnheim fahren, am Ende sind wir über tausend und eine Ecke auf die Stadtgeschichte zu sprechen gekommen. Er hat mir dann alles Wichtige auch gleich noch gezeigt … unter anderem auch die bereits erwähnte Werft. Allein in Stettin sind im Dezember 1970 16 Personen ums Leben gekommen, als die Proteste der Werftarbeiter von der Staatsmacht blutig niedergeschlagen wurden. Neu für mich war, dass Stettin nicht nur eine deutsche und eine polnische Vergangenheit hat, sondern auch eine skandinavische. Auch die Schweden und die Dänen hatten zwischenzeitlich einmal die Herrschaft über Stettin und sein Umland. Alles in allem ist Stettin eine Stadt voller Gegensätze. Es lässt sich sehr schwer beschreiben, man muss es einfach gesehen haben. Die Stadt bietet ein architektonisches Wechselbad: hier wilhelminische Prunkbauten, dort sozialistische Zweckbauten, hier Backstein, dort Beton, hier unvollendete Rohbauten, dort wunderschöne Altbauten, hier metropolitanes Nachtleben, dort fast dörfliche Idylle. Einfach unbeschreiblich … Übrigens befinden sich in Stettin das älteste, noch in Betrieb befindliche Kino Mitteleuropas und der flächenmäßig größte (oder zweitgrößte?) Friedhof des ganzen Kontinents. Und unten an der Oder, unterhalb des Schlosses der Pommerschen Herzöge, wächst die neue Altstadt, die neueste Altstadt Polens sozusagen.
Was für mich außerdem bleibt, ist die Erkenntnis, dass Stettin auch auf polnisch ganz einfach auszusprechen ist. Auch wenn die Schreibweise „Szczecin“ ziemlich kompliziert aussieht, so heißt es doch nur „Stjettin“. Ob ich nun aber endlich das „richtige Polen“ gesehen habe, bleibt für mich weiter offen: Dafür waren die Eindrücke in Stettin und Maciejewo zu verschieden – und in Stettin die Plakate zu groß, die in deutscher und schwedischer Sprache für preisgünstige Behandlung beim Zahnarzt werben … Einen Weihnachtsmarkt soll es in Stettin übrigens auch geben, allerdings erst kurz vor den Feiertagen. Dafür waren wir quasi zu früh im Jahr da.
Irgendwann stand dann schließlich doch die Rückfahrt an. Diese gestaltete sich ziemlich unkompliziert, sogar ab dem Wohnheim. Werden doch das „Schönes-Wochenende-Ticket“ und das „Berlin-Brandenburg-Ticket“ nicht nur im Zug zwischen der Grenze und dem Stettiner Hauptbahnhof anerkannt, sondern seit 1. Dezember 2005 auch im Stettiner Stadtverkehr. Was mittlerweile so alles geht …
Alles in allem waren die Fahrt nach Stettin und die Teilnahme an der Konferenz ein voller Erfolg! Es wurden nicht nur neue Kontakte geknüpft, sondern sogar neue Freundschaften – soweit möchte ich doch gehen. Wichtig für den Verein Verkehrte Welt e.V. ist, dass der Kontakt zwischen Dresden und dem Verbindungskreis KN? in Stettin nicht abreißt und durch rege gegenseitige Besuche sowie gemeinsame Aktivitäten weiterlebt.
Thomas Blankenhagel